„Ein liberales Elternhaus, in dem der Vater einen akademischen Beruf ausübt, ist in der Regel Voraussetzung dafür, dass sich Mädchen einem mathematischen oder naturwissenschaftlich-technischen Studium zuwenden. Oft ist es die einzige oder die Erstgeborene, welche sich einem derartigen Studium widmet“ (Tobies 2008: 32).
Diese These trifft auch auf die Hauptperson meines Referates zu, auf die Mathematikerin Iris Runge, welche eine erfolgreiche Frau in einem damals Männer dominierten Beruf darstellt.
1. Familienverhältnisse
- geb. am 1. Juni 1888 in Hannover
- gest. am 27. Januar 1966 in Ulm
- sie ist die erstgeborene Tochter der sechs Kinder von Carl Runge, dem Begründer der modernen Numerik, und von Aimée, der Tochter des berühmten Berliner
- Physiologen Emil Heinrich Du Bois-Reymond
- ihr Vater wurde 1904 der erste Professor der angewandten Mathematik in Deutschland
- eine ihrer Schwestern heiratet den Mathematiker Richard Courant
- und auch ihr Bruder Wilhelm Tolmé Runge macht sich als Hochfrequenz- und Nachrichtentechniker bei Telefunken einen Namen, wobei er – wie der Vater – „praktische Aufgaben systematisch mit den Mitteln der Mathematik“ anpackt
- Iris tritt als älteste Tochter in die Fußstapfen des Vaters und wird Mathematikerin und Physikerin
- Iris Runge wächst demnach in einer berühmten Mathematikerfamilie auf
- es ist für sie auch als Frau ganz normal, sich mit Wissenschaften zu beschäftigen und sie wird früh in das wissenschaftliche Denkkollektiv des Vaters einbezogen
- sie entwickelt mit ihm numerische und graphische Methoden
- als Akademikerkind hat sie zudem größere Chancen als Frau im wissenschaftlichen Bereich anerkannt zu werden
2. Ausbildungsphase
- sie studiert von 1907 – 1912 in Göttingen die Fächer Mathematik, Physik und Geographie
- während eines Studiensemesters 1911 in München regt sie der bedeutende theoretische Physiker Arnold Sommerfeld zu ihrer ersten wissenschaftlichen Publikation an: die Anwendung der Vektorrechnung auf die Grundlagen der geometrischen Optik
- in Mathematik wird sie von ihrem Vater geprüft
- nach dem Lehramtsexamen 1912 in Göttingen unterrichtet sie als Lehrerin an verschiedenen Reformschulen
- 1918/19 ergänzt sie in Göttingen ein Studium der Chemie und engagiert sich politisch für die SPD; Frauen dürfen 1919 erstmals wählen
- sie schließt das Studium 1920 mit der Lehrbefähigung für Chemie und mit einer Dissertation „Über Diffusion im festen Zustande“ ab
- in Göttingen macht sie zusätzlich ihren Doktor der Philosophie
3. Eine Frau als Industriemathematikerin: Welche Rolle nehmen Frauen in der Mathematik ein?
- Runge arbeitet seit 1919 bei dem Glühlampenwerk Osram (Osmium Wolfram) und ist damit die erste Frau mit mathematischem Hintergrund in dem Bereich der Industrieforschung
- Hauptprodukte der Fabrik sind Glühlampen und Radioröhren
- sie ist die Einzige bei Osram, die Mathematik beherrscht und genießt diese Arbeit nach dem Beruf als Lehrerin
- sie hält ihrem 1. Forschungsdirektor Dr. Richard Jacoby, der anorganischer Chemiker ist, sogar mathematische Vorlesungen, da seine vielen 100 Ideen nicht ohne Mathematik nutzbar sind
- Runge modelliert also mathematische Probleme in der Industrieforschung zu einer Zeit, als Firmen weltweit in der Regel nur einzelne Personen als mathematische Berater beschäftigten
- durch ihre mathematischen Lösungen erklärt sie den Anwendern vereinfacht, so dass sie es verstehen
- dadurch wurde „Berechnen statt Stöpseln“ zum geflügelten Wort und zum neuen Denkstil in der Industrieforschung
- ihr wird ihre mathematische Begabung hoch angerechnet und sie wird in der Fabrik Osram zur mathematischen Expertin
4. Wirtschafts- und Technomathematik bei Osram und Telefunken: Welche Rolle nimmt die Mathematik in Unternehmen ein?
- Iris Runge entwickelt eine Arbeitsweise, die wir heute als „Wirtschafts- und Technomathematik“ bezeichnen
- sie nutzt und entwickelt ein breites Spektrum von Methoden und verfasst einige mathematische Arbeiten, wie z.B. 1925 über einen Weg zur Integration der Wärmeleitungsgleichung
- eine bedeutendere Arbeit verfasst sie zur Leitfähigkeit metallischer Aggregate
- in Bezug auf das Problem der sogenannten Homogenisierung, der Berechnung der elektrischen Leitfähigkeit von Metalllegierungen, löst Iris das Mittelunsgproblem für eine Perioditätszelle
- im Gebiet der Materialforschung trifft sie auf Problemstellungen, die in der Technomathematik heute noch aktuell sind
- zusammen mit Becker und Plaut verfasst Iris Runge 1927 das international erste Lehrbuch über die Anwendung mathematischer Statistik auf Probleme der Massenfabrikation
- es behandelt praktische Anwendungen der Statistik in der Fabrikation mit eingehender und korrekter mathematischer Begründung
- auch in einer Buchreihe über technisch-wissenschaftliche Abhandlungen ist der erste Band von Iris über die Prüfung eines Massenartikels als statistisches Problem
4.1 Elektronenröhrenforschung
- ab 1923 wechselt Iris Runge zum Osram Glühlampenversuchslaboratorium, weil dort eine mathematische Expertin gebraucht wird
- 1929 wechselt sie in die Abteilung Rundfunkröhrenlaboratorium
- ihre mathematische Forschung trägt dazu bei, den Bau von Radioröhren zu verbessern
- es gibt viele Gemeinschaftsberichte, bzw. – publikationen mit Runge in Fachzeitschriften über die Entwicklung der Theorie der Elektronenemission und die Berechnung von Röhrendimensionen, sowie eine theoretische Arbeit über moderne Mehrgitter-Elektronenröhren
- ihre Aufsätze fließen sofort fast wörtlich in Forschungsbücher ein
- zudem berichtigt sie einen Fehler von Barkhausen, von dem die Barkhausensche Röhrenformel stammt: S * D * Ri = 1
- gemeinsam mit dem Osram-Röhrenwerk geht sie 1939 zu Telefunken über
-> So wichtig Mathematik früher schon in den Unternehmen Osram und Telefunken war, so wichtig ist sie auch heute noch, das macht das Zitat des Mathematikers Helmut Neunzert deutlich: „Mathematik ist eine sehr wichtige, ja eine entscheidende Disziplin in den führenden deutschen Unternehmen. […] Wie keine andere Wissenschaft hilft die Mathematik in unserer Branche, die unterschiedlichen Probleme zu lösen – und genau diese universelle Anwendbarkeit macht sie zur Königsdisziplin“ (Neunzert 2008: 109).
Schlussbemerkung
- Iris Runge wurde zur singulären Expertin für Fragen der Wirtschafts- und Technomathematik, wie mathematische Probleme der Qualitätskontrolle von Massenprodukten, Materialforschung, Optik und Farbenmetrik, Glühlampen- und Elektronenröhrenforschung
- sie war die mathematische Beraterin im Industriekontext und hat viele Gutachten und Arbeiten verfasst
- nach 1945 lehrt sie an der Volkshochschule Berlin, habilitiert, wird zur Dozentin und schließlich 1950 zur Professorin der theoretischen Physik ernannt
- ein Zitat von ihr war mal: „Ich brauche genug Schlaf, um morgen wieder 100 herrliche Sachen auszurechnen“
Quellen:
Neunzert, Prof. em. Dr. Helmut, Mathematik ist überall – Anmerkungen eines Mathematikers zu den Beiträgen der Wirtschaftsunternehmen. In: Mathematik – Motor der Wirtschaft, Hrsg.: Greuel, Gert-Martin; Remmert, Reinhold; Rupprecht, Gerhard. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 2008
Renate Tobies (Hrsg.) Aller Männerkultur zum Trotz – Frauen in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik, Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2008