Obwohl Lesen heute als individueller und intimer Prozess gilt und teilweise als Selbstsozialisation bezeichnet wird, spielt auch die Gesellschaft immer eine Rolle darin ob und was gelesen wird. (Vgl. Groeben, (Lese-)Sozialisation als Ko-Konstruktion, S. 145.)
Definition
Sozialisation sei ein „Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“, so beschreiben Geulen und Hurrelmann den Begriff. (S. Geulen & Hurrelmann, Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Sozialisationstheorie, S. 51.)
Sie wird von vielen unterschiedlichen Instanzen wie Familie, peer groups und Schule sowie Bildungsnormen, Schicht und (sozialem) Geschlecht mehr oder weniger stark beeinflusst, was im oben angeführten Zitat mit „Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“ beschrieben wird. (Vgl. Groeben, (Lese-)Sozialisation als Ko-Konstruktion, S. 163.)
Diese Abhängigkeit ist insofern wechselseitig, als das Individuum jeweils von der Umwelt beeinflusst wird, sie jedoch gleichzeitig ebenso beeinflussen kann. In der Lesesozialisation, wie auch in anderen Sozialisationsbereichen, besteht immer eine Verbindung zwischen der Individual- und der Systemebene des Gesellschaftssystems unserer Mediengesellschaft. Diese Ebenen werden auch Mikro- und Makro-Ebene genannt und können weiter untergliedert werden. So müssen für die Lesesozialisation beispielsweise die Ebenen Gesellschaftssystem, peer groups, Schule/Bildungssystem, Familie und Leser/in in Bezug auf seine/ihre Dispositionen, zu welchen beispielsweise das Geschlecht zählt sowie sein/ihr Erleben und Handeln, berücksichtigt werden.
Mehrebenenmodell des Lesens
Nach Esser lässt sich die Mehrebenen-Erklärungsstruktur in drei Schritte unterteilen. Den ersten Schritt nennt er ‚Logik der Situation’; hier wird die soziale Situation rekonstruiert. Die für die Situation gegebenen Bedingungen und für die Akteure auswählbaren Alternativen sind festgelegt. Durch so genannte ‚Brückenhypothesen’ wird die soziale Situation, welche auf der Makro-Ebene liegt, mit den Erwartungen und Bewertungen der Akteure auf der Mikro-Ebene verbunden.
Der zweite Schritt ist die ‚Logik der Selektion’; hierbei handelt es sich um die Handlungserklärung auf Individualebene, wobei handlungstheoretische Erklärungsmodelle einsetzbar sind.
Den dritten Schritt bezeichnet Esser als ‚Logik der Aggregation’; dieser Schritt meint den Übergang von der Mikro- zur Makro-Ebene. Hier entsteht eine „aggregierende Transformation der individuellen Effekte des Handelns der Akteure zu dem jeweiligen kollektiven Explanandum“. (S. Groeben, (Lese-)Sozialisation als Ko-Konstruktion, S. 151.)
Mikro- und Makro-Ebene
Ein ähnliches Modell wie Esser beschreibt auch Keller. Da jedoch unser Gesellschaftssystem sehr komplex ist, reicht es oftmals nicht aus lediglich von Mikro- und Makro-Ebene zu sprechen. So gehören die Familienstrukturen, peer groups etc. eher zu einer Zwischenebene, der Meso-Ebene.
Würde man den Verlauf der Sozialisation mit den verschiedenen Ebenen auf das Lesen anwenden, müsste man zunächst von den gesellschaftlichen Normen aus das Verhalten der Eltern erklären, von deren Aggregierung aus das Familienklima, welches wiederum mit Hilfe von Brückenhypothesen mit dem individuellen Verhalten der Kinder in Bezug auf deren Lesesozialisation verbunden werden müsste. Bezeichnet man die Lesesozialisation als Ko-Konstruktion, ist eine konzeptuell-intentional kohärente Erklärungsdynamik zentral, was am Beispiel von ‚erwarteten’ und ‚unerwarteten’ Lesern erklärt werden kann.
Auf der Makro-Ebene steht hierbei die gesellschaftliche Norm, nach welcher Lesekompetenz für die gesellschaftliche Teilhabe notwendig ist, auf der Meso-Ebene zunächst das elterliche Handeln bzw. das Familienklima, auf der Mikro-Ebene das individuelle kindliche (Sozialisations-)Handeln und auf der nachfolgenden Meso-Ebene wiederum das aus Vorherigem resultierende Familienklima. Bei den erwarteten LeserInnen zeigt sich die konzeptuell-intentionale Kohärenz vor allem bezüglich der Makro- und Meso-Ebene, da die Eltern die gleiche Auffassung wie die Gesellschaft haben, eine Modellfunktion für das Kind übernehmen und das Lesen in die Erziehung und das Familienleben integrieren. Das Kind kann sich somit mit den Eltern identifizieren und sie in ihrem Lesen imitieren, wodurch Lesekompetenz entwickelt wird.
Bei unerwarteten LeserInnen besteht dagegen eine Inkohärenz, da die Eltern das Lesen nicht vorleben und somit keine Modellfunktion entsteht. Es wäre also anzunehmen, dass auch das Kind sich des Lesens abwendet. Andere Sozialisationsinstanzen werden hier umso wichtiger. Somit ist hier das Kind die dynamische Instanz, welche den Eltern von seinen Leseerfahrungen berichtet.
Lesesozialisation wird schlussfolgernd von vielen Faktoren beeinflusst. Für Jugendliche sind vor allem Gleichaltrige von immenser Bedeutung, da sie sich mit diesen am ehesten austauschen und identifizieren können. Auch heutzutage sind allerdings die beste Prognose für die Lesekompetenzentwicklung eines Kindes noch immer die Schulbildung der Eltern und der Einkommensindikator, wodurch eine Chancenungleichheit entsteht.3Wie im Folgenden gezeigt wird, kann aber auch das Geschlecht eine entscheidende Rolle spielen.
Maßnahmen zur Förderung von Lesesozialisation
Für die Lesesozialisation gibt es Fördermaßnahmen sowohl im familiären als auch im schulischen Bereich. So sollten beispielsweise Eltern darauf achten, dass beide ihrem Kind schon früh vorlesen und Geschichten erzählen. Hierfür sollten sie sich genügend Zeit nehmen, damit sie sich intensiv mit dem Kind beschäftigen sowie dessen Kommunikationsfähigkeiten und Verständnis fördern können. Durch das abwechselnde Vorlesen durch Mutter und Vater wird dem Kind verdeutlicht, dass Lesen weder eine rein weibliche, noch eine rein männliche Tätigkeit ist.
Doch es kommt nicht nur darauf an, wer vorliest, sondern auch darauf, was vorgelesen wird. So bieten sich in der Phase der prä-und paraliterarischen Kommunikation zunächst Elementarbilderbücher an, welche auf Vermittlung und Austausch zielen. Elementare Fähigkeiten werden hierbei geschult, es kommt weniger auf das Verständnis des Inhalts an. (Vgl. Garbe, Lesen – Sozialisation – Geschlecht, S.72.) Für das ältere Kind können Bilderbuchgeschichten verwendet werden. Auch hier ist die Diskussion mit einem Erwachsenen von großer Bedeutung. Nur so kann die Geschichte richtig verstanden werden. Heutige Bilderbücher regen oft dazu an, sich mit Gefühlen auseinanderzusetzen. (Vgl. Becker, Hurrelmann & Nickel-Bacon, Lesekindheiten, Familie und Lesesozialisation im historischen Wandel, S. 351 f.) Da Jungen, wie bereits erwähnt, häufiger Schwierigkeiten mit dem Empathieempfinden haben, scheinen diese Bücher für Jungen eine besonders wertvolle Übung zu sein. Sie sollten aber auch nicht dazu getwungen werden. Andererseits fordern die Bücher oft die Auseinanderhaltung von Realität und Traumwelt,3 was wiederum eine Übung für die Mädchen darstellt, ebenfalls aber nicht zwanghaft gefordert werden darf. Somit gibt es in dieser Phase der Lesesozialisation sowohl Fördermöglichkeiten und Interessengebiete für Jungen als auch für Mädchen. Mit vielen Büchern werden zudem nicht nur die Lesekompetenz und Kommunikationsfähigkeit geschult. Auch politische Früherziehung findet statt; es werden beispielsweise Themen wie ‚Migration’, ‚Umwelt’ etc. angesprochen. Allerdings sollten die Kinder auch nicht überfordert werden.
Weiterhin können Kindergedichte oder -lieder genutzt werden. In dieser ersten Phase kommt es auf Kommunikation an, nicht auf Lesen. So lernen Kinder früh sich mit dem Medium Buch auseinanderzusetzen und nehmen bereits im Kleinkindalter wahr, dass die Eltern Bücherkontakt haben. Auch im Kindergarten können diese Medien genutzt werden.
Problematisch ist allerdings, dass in Kindertagesstätten deutlich mehr Erzieherinnen als Erzieher und in der Grundschule mehr Lehrerinnen als Lehrer arbeiten, wodurch auch hier männliche Vorbilder rar sind. Dies ist insofern problematisch, dass zum Einen das Lesen dadurch wieder als weibliche Tätigkeit erfahren wird und zum Anderen die Erzieherinnen und Lehrerinnen oft unbewusst Literatur wählen, die den Interessen der Mädchen, nicht aber denen der Jungen entspricht.
Es wäre also wünschenswert in Bildungsinstitutionen eine Ausgewogenheit zwischen Frauen und Männern zu schaffen, um Jungen im Lesen zu fördern. Ebenso sollten Lehrerinnen darauf achten, die Interessen der Jungen zu beachten, damit sie trotz schlechterer Voraussetzungen durch das Fehlen einer Bezugsperson Gefallen am Lesen finden können. So sollten Gedichte aber eben auch Sachtexte gelesen werden. ( Vgl. Kliewe, Risikogruppe Jungen, S. 50.) Auch die Medienwahl sollte abwechslungsreicher gestaltet werden. Heutzutage gibt es eine Reihe von Medien, die im Deutschunterricht anwendbar sind, dies sollte auch genutzt werden. Dafür wäre zunächst eine Schulung der LehrerInnen nötig, damit sie die verschiedenen Medien sinnvoll einsetzen und kombinieren können.
Für die technische Nutzung im Unterricht gilt zudem, dass Mädchen im allgemeinen Umgang damit mehr gefördert werden sollten, Jungen im reflektierten, inhaltlich anspruchsvollen Umgang.
LehrerInnen sollten weiterhin die privaten Interessen und Hintergründe ihrer SchülerInnen kennen und berücksichtigen, damit sie auch Leseempfehlungen geben können, welche die Kinder bzw. Jugendlichen außerhalb der Schule lesen können.
Dadurch wird die Motivation verstärkt, da im Deutschunterricht die Vorgaben des Kerncurriculums berücksichtigt werden müssen und die in der Schule gelesene Lektüre nicht immer die Interessen aller erfüllen kann. (Vgl. Garbe, Lesesozialisation, S.194.)
Es ist also gemeinsame Aufgabe der Eltern und der Schule den Kindern ein möglichst gutes Verhältnis zur Literatur zu vermitteln. Dabei ist es besonders wichtig, auf die Interessen des individuellen Kindes einzugehen, es nicht in Rollen wie ‚weiblich’ und ‚männlich’ zu zwängen sondern ihm von Anfang an verdeutlichen, dass Lesen jedem Spaß machen kann, wenn er die für sich richtige Lektüre wählt.
Literaturverzeichnis:
Becker, Susanne; Hurrelmann, Bettina et al. (2002): Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Zur (Re-)Konstruktion geschlechtsspezifischer Vermittlungsformen in der Lesesozialisation. In: Bonfadelli, Heinz; Bucher, Priska (Hg.): Lesen in der Mediengesellschaft. Stand und Perspektiven der Forschung. Zürich: Pestalozzianum. S. 178-214.
Bilden, Helga (1991): Geschlechtsspezifische Sozialisation. In: Hurrelmann, Klaus; Ulich, Dieter (Hg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung, 4., völlig neu bearbeitete Auflage, Weinheim & Basel: Beltz. S.279-301.
Fischer, Arthur; Fuchs, Werner; Zinnecker, Jürgen (1985): Jugendliche und Erwachsene ’85. Generationen im Vergleich. Band 2. Freizeit und Jugendkultur. Studie im Auftrag des Jugendwerks der Deutschen Shell. Leverkusen: Leske +Budrich.
Garbe, Christine (2008): Lesen – Sozialisation – Geschlecht. Geschlechterdifferenzierende Leseforschung und -förderung. In: Bertschi-Kaufmann, Andrea (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. 2. Auflage, Seelze-Velber: Kallmeyer in Verbindung mit Klett, S. 66-83.
Garbe, Christine (2000): „Männliche“, „weibliche“ oder „geschlechtsübergreifende“ Medienpraxis? Geschlechterkonstruktionen und Mediennutzung im Wandel. In: Eggert, Hartmut u.a. (Hrsg.): Literarische Intellektualität in der Mediengesellschaft. Weinheim: Juventa, S. 157-184.
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Geulen, Dieter; Hurrelmann, Klaus (1980): Zur Programmatik einer umfassenden Sozialisationstheorie. In: Hurrelmann, Klaus; Ulich, Dieter (Hg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim & Basel: Beltz. S. 51-67.
Groeben, Norbert (2004): (Lese-)Sozialisation als Ko-Konstruktion – Methodisch-methodologische Problem- (Lösungs-) Perspektiven. In: Groeben, Norbert; Hurrelmann, Bettina (Hg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick. Weinheim und München: Juventa. S. 145-168.
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Irle, Katja (2008): Leselust und Lesefrust. Die entscheidenden Weichen für den Lese- und Bildungserfolg werden lange vor der Schule gestellt. In: Stiftung Lesen (Hrsg.): Lesen in Deutschland 2008. Eine Studie der Stiftung Lesen. S.97.
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Pieper, Irene; Rosebrock, Cornelia (2004): Geschlechtsspezifische Kommunikationsmuster und Leseverhalten am Beispiel der Lektüre Jugendlicher. In: Siegener Perioticum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft. Jg. 23 (2004), Heft 1. Frankfurt: Peter Lang, S. 63-79.
Internet:
Niedersächsisches Kultusministerium (Hrsg.) (2006): Kerncurriculum für die Grundschule. Schuljahrgänge 1-4. Deutsch. Hannover: Unidruck.
(einzusehen auf: http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gs_deutsch_nib.pdf; letzter Zugriff: 29.03.2010)