Strukturwandel in Großbritannien + Auswirkungen auf Städte (England)

Entwicklungen innerhalb der britischen Städte

Um genauer auf die Entwicklungen innerhalb der britischen Städte selbst einzugehen, muss erwähnt werden, dass die richtige Verstädterung in Großbritannien gleichsam mit der beginnenden Industrialisierung zusammenhängt und durch sie zuerst gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihren Anfang nimmt.

Großbritannien gilt als Mutterland der modernen Fabrikindustrie und verzeichnet bereits Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als 50 Prozent der britischen Bevölkerung in Städten mit mehr als 2.000 Einwohnern. Ein halbes Jahrhundert später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, leben schon drei Viertel der Briten in Städten (vgl. NEUMANN 1997, S.5).

Schon um das Jahr 1930 herum verzeichneten viele britischen Städte ihren Höchststand an Einwohnerzahlen; so beispielsweise die Städte Glasgow, Liverpool und Manchester. Zur Folge hatte dies, dass die Lebensbedingungen in den britischen Industriestädten gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts absolut unzureichend waren, vor allem wegen massiver Überbelegung und mangelhafter sanitärer Ausstattung.

So beginnt in Großbritannien in eben genanntem Zeitraum bereits der Prozess der Suburbanisierung von mittlerer und oberer Bourgeoisie ins nahe Umland der Städte. Der sich aus Kernstadt und neu besiedeltem Umland der Städte zusammensetzende Bereich wird in Großbritannien, nicht wie im deutschen als Ballungsraum oder Agglomeration bezeichnet, sondern als Conurbation (vgl. NEUMANN 1997, S.5).

Die weitere Entwicklung britischer Städte zeigt, dass die suburbanen Zonen der Städte in England und Wales in den 1960er Jahren die höchsten Zuwachsraten aufwiesen. Jedoch änderte sich dies mit Beginn der 1970er Jahre, als die höchsten Zuwachsraten nicht mehr im direkten, suburbanen Raum der Städte, sondern im weiter in der Peripherie gelegenen ländlichen Raum verzeichnet wurden.

Der Begriff der Deurbanisierung (oder auch „Counterubranization“), der eine komplette Entstädterung charakterisiert und von B.J.L. Berry geprägt wurde, passt aber nicht wirklich zum Prozess der britischen Städte. Hierbei handelte es sich eher um eine noch weiter ins Umland reichende Suburbanisierung (vgl. NEUMANN 1997, S.5). Auch aus dem Grund, dass sich die Kernstädte nicht völlig auflösten. Gründe, die für diesen Prozess sorgten, sind unter anderem die gestiegene individuelle Mobilität, wodurch auch längere Pendelbewegungen vom und zum jeweiligen Arbeitsplatz möglichen wurden und die allgemein zunehmende Dezentralisierung des Arbeitsplatzmarktes.

Mit den 1980er Jahren vollzieht sich dann ein weiterer Prozess in den britischen Städten, der mit dem Begriff der Reurbanisierung zusammenhängt. Der Begriff ist nicht eindeutig definiert, bezeichnet aber Sanierungs- und Aufwertungsvorgänge innerhalb der Kernstadt, durch die diese wieder attraktiver wird und eine Bevölkerungsbewegung zurück in die Innenstädte nach sich zieht. Dabei handelt es sich sowohl um bauliche Erneuerung und Erschließung, als auch um eine soziale Aufwertung von Innenstadtbereichen; unter anderem eben auch vor allem im Bereich der Uferzonen und ehemaligen Hafenareale.

Wie im weiteren Verlauf der Arbeit näher erläutert wird, geht mit der sozialen Aufwertung der Innenstädte und Uferbereiche auch eine Gentrification einher, inklusive der Verdrängung vormals ansässiger sozio-ökonomisch schwacher Gruppen. Ursachen dafür liegen beispielsweise darin, dass alleinstehende junge Berufstätige, sowie berufstätige Ehepaare die Kernstädte als Wohnlage präferieren. Die Gentrifizierung führt so „zu einer verstärkten innerstädtischen Differenzierung und Segregation, die durch staatliche Investitionen in Form von Sanierungsmaßnahmen noch verstärkt werden kann.“ (NEUMANN 1997, S.6) Der Prozess der Reurbanisierung ist aber nicht als genereller Trend zu sehen; da nur ca. 10% der Haushalte aus dem Umland wieder zurück in die Innenstädte zieht (vgl. NEUMANN 1997, S.6).

Strukturwandel in Großbritannien und die Auswirkungen auf die britischen Städte

Strukturwandel in Großbritannien und die Auswirkungen auf die britischen Städte - Claaslietz / pixelio.de

Bereits erwähnt wurde der Strukturwandel innerhalb der Kernstädte und Innenstadtzentren, auch im Hinblick auf die sozial-räumlichen Veränderungen in den ufernahen Gebieten und Hafenanlagen. Dazu soll nun das Hafenmodell „Anyport“ von J.H. Bird dargestellt werden. Es beschreibt die Entwicklung der britischen Häfen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen in einem idealtypischen Analysemodell. Es ist für alle Seehäfen in gewisser Weise charakteristisch, da sie alle an ähnliche hafen- und schiffbautechnischen Voraussetzungen gebunden waren und sind. Bird beschreibt das Modell vor allem für britische Häfen, die meist an einem Ästuar gelegen sind, flussabwärts gerichtet, mit einer linear entlang des Flussufers verlaufenden Expansionstendenz (vgl. SCHUBERT 2002; S. 32). Zu dem Modell gehören sechs Phasen. In Phase 1 wird die hochwertig Fracht der außerhalb der befestigten Stadtanlagen vor Reede liegenden Schiffe mit Lastkähnen in die Speicher innerhalb der Stadt gebracht. Erweiterungen führten in der zweiten Phase (im 17. und 18. Jahrhundert) zur Anlage von mehr Liegeplätzen und zum Ausbau von Hafenbecken am Gegenufer. Anfangs des 19. Jahrhunderts beginnt die dritte Phase mit dem Bau von größeren Hafenbecken mit Kaianlagen und Schuppen, was als Folge des stark wachsenden Handels von Nöten war. Dadurch konnten die älteren Speicher im Stadtgebiet weitestgehend aufgegeben werden. Mit dem weiter wachsenden Verkehr und dem Übergang zum eisernen Dampfschiff kam es Mitte des 19. Jahrhunderts in der vierten Phase zum Ausbau der Kaiflächen mit Eisenbahnanschluss weiter flussabwärts für die Anlage von Hafenbecken mit Schleusen, den sogenannten Docks. Diese wurden mit weiterem Wachstum großzügig für weitere Liegeplätze erweitert (Phase 5). Phase 6 bezeichnet die Umstrukturierung von älteren Mehrzweckanlagen zu spezialisierten Umschlagterminals nach dem Zweiten Weltkrieg. Die heutige, nun schon als mögliche siebte Phase zu bezeichnende, Entwicklung bezieht sich auf das Zuschütten älterer Hafenbecken und die Umnutzung der landseitigen Verkehrsflächen und Lagerhäuser. Die Häfen werden meist direkt an die Küste verlagert (Vorhäfen) (vgl. NUHN & HESSE 2006; S. 298 und vgl. SCHUBERT 2002; S.32).

Strukturwandel der britischen Wirtschaft

Der Strukturwandel innerhalb der britischen Wirtschaft kann mit drei Schlagworten charakterisiert werden: Deindustrialisierung, Reindustrialisierung und Tertiärisierung.

Der Prozess der Deindustrialisierung bezeichnet, wie der Name schon sagt, einen weitgehenden Wegfall von Industrie, der sich vor allem auf die innenstadtnahen Bereiche und die Hafenareale auswirkte: „Das Brachfallen der innerstädtischen Hafengebiete und die Dekonzentration der Bevölkerung stehen in engem Zusammenhang mit dem Strukturwandel des Wirtschaftssystems auf dem Weg in das „postindustrielle Zeitalter“. Die britische Wirtschaftsstruktur ist seit den [19]60er Jahren durch eine andauernde absolute und relative Abnahme der Beschäftigung im produzierenden Bereich gekennzeichnet.“ (vgl. NEUMANN 1997, S.6). Eine direkte Auswirkung auf die Innenstädte hatte dieser Prozess der Deindustrialisierung vor allem daher, dass sich die Eisen- und Stahlindustrie, die Textilindustrie und der Schiffsbau in der Frühphase der Industrialisierung eben in den Kernstädten und sich diese Wirtschaftszweige in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Niedergang befanden. Besonders betroffen davon waren die Regionen Clydeside (Region Glasgow), Tyneside und Cleveland (Nord-Ost-England), Merseyside (Region Liverpool), die Textilindustrien beiderseits der Penninen und die Kohlereviere in Südwales. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts kamen dazu dann noch die Regionen der West Midlands, die von der Automobilindustrie geprägt waren. Diese konnten sich einige Jahrzehnte länger behaupten, bis auch dort dann ein Einbruch einsetzte.

Den Begriff der Reindustrialisierung bezeichnet eine Verlagerung von Industriezweigen ins zentrumsferne Umland der Kernstädte, in den suburbanen Raum. Dabei handelte es sich um Industriezweige, die „gegenwärtig [Ende des 20. Jahrhunderts] einen raschen technologischen Fortschritt verzeichnen und hohe Anteile ihrer Ausgaben in den Bereichen Forschung und Entwicklung tätigen.“ (vgl. NEUMANN 1997, S.6) Sie werden als „High-Tech-Industrien“ bezeichnet. Diese Bereiche verzeichneten in den 1970er Jahren das stärkste Produktionswachstum aller britischen Industriezweige. Ein Jahrzehnt später lagen nahezu alle Wachstumsregionen dieser Industriezweige außerhalb der großbritannischen Großstädte. Gründe dafür sind die sogenannten „weichen Standortfaktoren“, die in diesem Fall eine große Fläche mit hoher Wohnqualität außerhalb der Städte bieten, aber gleichzeitig die Großstadt mit ihrem jeweiligen Kulturangebot und sonstigen Ausstattungen zügig erreichen lassen.

Die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltete sich ähnlich der in den anderen marktwirtschaftlich orientierten Industrienationen. Nach Ende des Krieges befand man sich bis in die Anfänge der 1970er Jahre in einer stabilen Entwicklungsphase. Diese ist geprägt durch den Fordismus, die Großserien- und Massenproduktion, die in der Automobilindustrie entstand. Die Produktion passte sich dabei der steigenden Nachfrage nach Massengütern, wie beispielsweise dem eigenen PKW, an. So wurden das Wirtschaftswachstum und der Konsum durch eine Abstimmung von Lohnsteigerungen und zu erwartenden Produktivitätsfortschritten der Unternehmen in einem Gleichgewicht und somit stabil gehalten (vgl. NEUMANN 1997, S.7).

In den 1970 er Jahren geriet diese Entwicklung und vor allem der Zusammenhang von Wirtschaft und Gesellschaft in eine Krise. Die fordistische Produktionsstruktur erlaubte keine weiteren Produktivitätsfortschritte, da die technischen Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Hinzu kamen nun individuelle Konsumwünsche der Menschen, die nicht mehr durch eine Massenproduktion bewältigt werden konnten. Diese individuellen Konsumwünsche bewirkten außerdem eine sinkende Nachfrage nach den Erzeugnissen der fordistischen Produktionen, was zu einem steigenden Wettbewerb eben dieser Produktionseinheiten führte. Das Wachstum wurde weiterhin geschwächt durch sich fortführende Lohnsteigerungen und eine beginnende internationale Konkurrenz durch die Industriebetriebe aus Entwicklungs- und Schwellenländern. Es folgte ein Abbau von Arbeitsplätzen in den Industriezweigen der fordistischen Produktion, mit gleichzeitiger Verlagerung in sogenannte „Billiglohnländer“. Dies zieht einen immer gleichen Effekt nach sich: in diesem Fall eine steigende Arbeitslosigkeit in Großbritannien, einhergehend mit Verringerung der Kaufkraft der Konsumenten. Daraufhin verbuchen die öffentlichen Finanzhaushalte sinkende Einnahmen, bei gleichzeitig steigenden sozialstaatlichen Ausgaben (vgl. NEUMANN 1997, S.6).

Die weitergehende wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens ist charakterisiert durch den Prozess der Tertiärisierung. Dieser Prozess geht komplementär einher mit der bereits erwähnten Deindustrialisierung. Die Tertiärisierung bezieht sich auf den tertiären Sektor als den „Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeiten, der im Gegensatz zum primären- (Landwirtschaft) und sekundären Sektor (Produktion) durch den technischen Fortschritt nur eine geringe Beeinflussung erfährt.“ (NEUMANN 1997, S.7). Die Aktivitäten des tertiären Sektors werden in Abgrenzung zu den landwirtschaftlichen und verarbeitenden und produzierenden Tätigkeiten als Dienstleistungen bezeichnet. Dienstleistungen wiederum bezeichnen den Austausch eines (oft immateriellen) Sachwertes (vgl. NEUMANN 1997, S.7).

Dem tertiären Sektor kommt ein wesentlicher Anteil der Wirtschaftstätigkeit zu, sowohl bezüglich des Sozialproduktes, als auch der Beschäftigtenzahlen. Diese lagen 1992 im Bezug auf die Zahl der Gesamterwerbstätigen in Großbritannien bei 62%.

Inzwischen kann auch bereits ein quartärer Sektor herausgebildet werden, der hochqualifizierte Dienstleistungen bezeichnet, für die meist eine akademische Ausbildung notwendig ist. Dabei handelt es sich vor allem um die Bereiche Finanzen, Datenverarbeitung, Management, etc. Diese Industriezweige (des tertiären und quartären Sektors) bevorzugen ihrerseits die Agglomerationen und großen Zentren als Unternehmensstandorte und sorgen so in den Kernstädten für eine Auslastung der vorhandenen Bürokapazitäten, beziehungsweise schaffen sie eine gesteigerte Nachfrage nach ebensolchen Standorten in zentraler Lage. So kommen dann auch wieder die brachgefallenen Hafenareale in den Fokus, auf denen innenstadtnah Platz für beispielsweise neue Bürokomplexe vorhanden ist.

Die beschriebene Entwicklung innerhalb der britischen Städte und der Strukturwandel in der Wirtschaft verursachten räumliche Disparitäten, die in Großbritannien einen Nord-Süd-Gegensatz zur Folge hatten. Es besteht seitdem ein starker Unterschied zwischen dem Norden (den „Highlands“) und dem Süden („Lowland Britain“) Großbritanniens. Dabei geht es nicht um die physisch-geographischen Unterschiede, sondern um soziale und sozio-ökonomische. Die Regionen des Nordens (mit Ausnahme des Nordwestens) mussten zwischen 1979 und 1986 einen starken Rückgang der Durchschnittslöhne hinnehmen, während die Regionen des Südens (südöstlich der „Severn-Wash-Linie“) eine Zunahme verzeichnen konnten. Außerdem stieg die Anzahl der Arbeitsplätze in diesem Zeitraum im Süden um 5,4%, während sie im Norden um 8,5% sank. Bereits im 18. Jahrhundert setzte aus ebensolchen Gründen eine Nord-Süd-Wanderung ein, die bis heute anhält. Vor allem die Innenstädte des Norden sind von diesen Bevölkerungsverlusten stark betroffen (vgl. NEUMANN 1997, S.8).

Quellen:

NEUMANN, U. (1997): Auswirkungen und Prozeßabläufe der Erneuerung innerstädtischer Hafengebiete im Revitalisierungsprozeß britischer Städte. Dargestellt am Beispiel der Städte Manchester und Hull. Düsseldorf.

NUHN, H./HESSE, M. (2006): Verkehrsgeographie. Paderborn.

SCHUBERT, D. (2006): Revitalisierung von (brachgefallenen) Hafen- und Uferzonen, Anlässe, Ziele, Ergebnisse sowie Forschungsansätze- und defizite. – IN: SCHUBERT, D. (Hrsg): Hafen- und Uferzonen im Wandel, Analysen und Planungen zur Revitalisierung der Waterfront in Hafenstädten. Berlin. S.15-36.

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