Judentum im Mittelalter
Die Geschichte der Juden im ausgehenden 13. Jahrhundert ist von einer gewissen Zwiespältigkeit geprägt. Auf der einen Seite stellt sich für den Betrachter die Situation der Juden als Höhepunkt in Bezug auf deren Kraftentfaltung dar; auf der anderen Seite jedoch zeigten sich peu à peu von diesem Zeitpunkt an die ersten Anzeichen einer Krise, die im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts signifikant werden sollte.
Es ist anzunehmen, dass die Juden im mittelalterlichen Reich durchschnittlich nur einen geringen Prozentsatz der Bevölkerung der Städte ausmachten, in denen sie lebten. Allerdings stieg die Gesamtzahl der deutschen Juden im Laufe des 13. Jahrhunderts an – in einem Wachstumsprozess, der sowohl Juden als auch Nichtjuden in jenem Jahrhundert der allgemeinen Expansion eigen war, wobei der Hintergrund der jüdischen Zuwanderung aus dem Westen Europas nach Vertreibungen nicht außer Acht zu lassen ist. Hauptsächlicher Ausdruck dieses Wachstumsprozesses ist in der schnellen Zunahme der Zahl jüdischer Siedlungsorte erkennbar. In Zahlen drückt es sich etwa wie folgt aus: bis 1096 sind vierzehn jüdische Siedlungsorte zu vermerken, bis 1238 folgen weitere 90; um 1350 sind es gar 1000. Ein dichtes Netz von jüdischen Gemeinden erfüllte das Rheinland und den Elsass; wesentlich dünner besiedelt waren Südostdeutschland sowie Nord- und Nordostdeutschland. Die Niederlassung in Rothenburg ob der Tauber (1241), der Gemeinde des Rabbi Meir, reiht sich chronologisch in diese West-Ost-Bewegung ein.
Die Geschichte der Juden im Mittelalterlichen Reich zum ausgehenden 13. Jahrhundert - Dieter Schütz / pixelio.de
Im Laufe des 13. Jahrhunderts veränderte sich auch das bis dato typische Muster jüdischer Siedlungsbewegungen, die auf größere Städte des Reiches konzentriert waren und viele Juden in einer sehr städtischen Umgebung zusammenführte. Die Neugründungen jüdischer Siedlungen wurden kleiner und ländlicher; auch die Landkarte jüdischer Gelehrsamkeit wich vom rheinisch geprägten Muster ab – so zeigt auch die Lebensgeschichte des Rabbi Meir ein Anzeichen für die Wanderung der Zentren jüdischer Gelehrsamkeit über Franken nach Osten und Südosten – dort entwickelte sich im Spätmittelalter mit Prag und Wien ein neuer Schwerpunkt.
Judenverfolgung im Mittelalter
Mit den Kreuzzügen brachen schwere Zeiten über die Juden ein; blutige Verfolgungen änderten vollständig sowohl die inneren Lebensverhältnisse als auch ihre politische Stellung nach außen. Die Schutzherren, denen sie bis zu diesem Zeitpunkt unterworfen waren, erwiesen sich als zu schwach, ihnen zu helfen, sodass sie ein Abhängigkeitsverhältnis zum Kaiser entstand, das in der Forschung als Kammerknechtschaft bekannt ist. Sinn dieses Verhältnisses zwischen Kaiser und Juden war nicht etwa die Verbundenheit des Reichsoberhauptes zu den Juden, sondern viel mehr die dauerhafte und vor allem hohe Einkunft der Abgaben, welche die Juden zu ihrem Schutze an den Kaiser leisten mussten. Im Laufe der Zeit übertrug der Kaiser dieses „Schutz/Abgabe-Verhältnis“ an seine weltlichen und geistlichen Fürsten. Die meisten Fürsten missbrauchten jedoch in gewisser Weise ihr Amt, in dem sie von den Juden wohl Abgaben forderten, aber im Gegensatz dazu keinen verbindlichen Schutz leisteten.
Der Widerspruch zwischen den neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten und dem religiös-ethischen Bewusstsein der christlichen Gesellschaft, die verstärkte Tätigkeit der Juden im Wirtschaftsleben, vor allem aber der sukzessive Abbau der königlichen Autorität brachte die Juden im ausgehenden 13. Jahrhundert in eine sehr exponierte Position. Die hochkirchliche Befassung mit den Juden in Form des Laterankonzils 1215 – Inhalte waren Erörterungen und Bestimmungen zu Absonderung der Juden – rief erstmalig das Bestehen einer „Judenfrage“ ins Bewusstsein der europäischen Christen. Die Entstehung einer theologisch zwar nie legitimierten, aber eindeutig religiös motivierten erbarmungslosen Judenfeindschaft großer Kreise der Bevölkerung trug zu dieser Position bei. Dies zeigte sich vor allem in Pogromen in Gefolge von Beschuldigungen der Hostienschändung und des Ritualmords. Erstmals seit dem ersten und zweiten Kreuzzug wurden die alten, vornehmlich religiös begründeten Anfeindungen aktualisiert und konkret auf die Juden bezogen.
Bis ans Ende des 13. Jahrhunderts waren die Judenverfolgungen temporär und lokal begrenzt, forderten allerdings schon hohe Zahlen von Opfern und betrafen sogar ganze Gemeinden. In den 80er-Jahren des 13. Jahrhunderts weiteten sich die Verfolgungen jedoch zu großen regionalen Bewegungen aus, die fast schon mit dem Begriff „Mordlust“ charakterisiert werden kann. Bedeutend hierbei waren der „Gute Werner“ im Rhein und Moselgebiet (1287-89), „Rindfleisch“ in Franken, Hessen und Thüringen (1298), „Judenschläger“ und „Armleder“ in Franken, Hessen, Elsass und am Mittelrhein sowie die Beschuldigung der Hostienschändung von Deggendorf (Verfolgungen in Bayern) und Pulkau (Verfolgungen in Österreich, Böhmen und Mähren).
So entstand eine noch nicht da gewesene Form der Judenfeindschaft, die religiöse Abneigung, soziale Konflikte innerhalb der christlichen Bevölkerung und den Widerstand breiter Schichten gegen wirtschaftliche und soziale Modernisierungstendenzen zu einer zerstörerischen Energie zusammenfasste. Ein weiteres Beispiel konsequenter Judenverfolgung zeigte sich während der Pest.
Quelle:
Toch, Michael: Zur Situation der Juden in Deutschland gegen Ausgang des 13. Jahrhunderts; in: Merz, Hilde: Zur Geschichte der Mittelalterlichen Jüdischen Gemeinde in Rothenburg ob der Tauber. Rabbi Meir Ben Baruch von Rothenburg zum Gedenken an seinen 700. Todestag, Rothenburg 1993, S. 209.
Zimmels, Dr. H.J. : Beiträge zur Geschichte der Juden in Deutschland im 13. Jahrhundert – insbesondere auf Grund der Gutachten, des R. Meir Rothenburg, Wien 1926, S. 8-11.